Ein portugiesisches Thekengespräch über Vergänglichkeit und Hoffnung

Ich stehe auf der Punta da Sagres,

die Weite eines Seefahrermeeres vor mir, die Geschichte eines Volkes im Rücken, vereint in der Seerose des Infanten Heinrich und im gebrochenen Hafen.

Gestern habe ich in der Fischerkneipe eine Lissabonnerin getroffen, intellektuell, gutaussehend, die wohl auch auf der Suche nach geschichtlicher Weite war.

Man kam sich näher und der Zeitpunkt des Berauschtseins an der Vergangenheit anderer und der eigenen auch. Ich kenne meine Worte noch, trotz der goldumkränzten Flasche Vinho verde und ihres fast orientalischen Zaubers. Ich gerat in die portugiesische Saudade, rezitierte den neunten Gesang aus den Lusitaden des Herzensbrechers Camoes und verfing mich in der Irritation des Zwielichtes.

Fragte sie provokant, ob denn der Infant Henrique wirklich vom „fin do mundo“ abgesegelt sei mit einem seiner Kapitäne, Weltreiche zu erobern mit Kompass, Sternenkarte, Lyra, Bibel und Schwert, um schließlich auf die Unwirklichkeit des Kongo zu stoßen und vorher glückliche angolanische Kindergesichter ins Schlepptau

seiner korallenumsäumten Karavellen zu zwingen und sie nachher in einem Zerrspiegel verfallen zu lassen, oder ob Reinhold Schneider recht gehabt haben sollte, als sich das Lissabonner Unglück am Zittern der goldenen Uhr des Marquez de Pombal andeutete und damit zugleich eine Weltmacht in Untergang und Saudade stieß.

Keine Antwort … Portugal e mia saudade …

Sie fragte mich, ob ich Politologe sei oder Schriftsteller oder Künstler oder Trinker oder Phantast. In allem widersprach ich ihr nicht …

Portugal bebt. Wir schreiben das Jahr des Herrn 1755. Einbrechende Glockentürme, zerbrochene Kreuze, Inferno des Zerfalls, Sinnbild des Endes der Dekadenz, lacrimae Christi, noch einmal gestorben, Karfreitag … vergib uns unsere Schuld … nein, begraben unter dem Schutt des ewig wollenden Weltreiches der Utopien, der fremden schönen Gesichter, alles mitreißend …

… ite, missa est …

Eine Nelke auf dem Gewehr macht noch keine Revolution, merkte ich vorsichtig an. Wem sterben wir, wem opfern wir uns? Ich opfere mich für die Menschen, sagte zerschossen ein sterbender Priester, ave Maria, gratia plena, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes … nein, du stirbst für dich und die Menschen und nicht für Gott, antwortete ich ihm damals, und vergessen wir Nietzsche, Gott will nicht den Tod des Sünders, egal welchen sinnlosen Lebenskampf du durchlittest.

Ich entschuldigte mich bei ihr für den theologischen Exkurs. Es mache ihr nichts, es sei etwas Abwechslung, interessant, ein Mensch mit Hintergrund, doch seien wir doch bei Weltreichen und Unschuldigen stehengeblieben …

Gründonnerstag, Karfreitag, portugiesische Traurigkeit und schummriges, alkoholgefärbtes Kneipenlicht. Sünde. Kein fußwaschender Jesus, kein liebender Johannes im Abendmahlsbild, kein aus Liebe und Enttäuschung entwichener Judas … laß diesen Kelch an mir vorübergehen … aber nicht mein Wille geschehe …

Was heißt eigentlich portugiesisch traurig zu sein?

Wissen sie es? Können sie mir eine Antwort geben?

Nein.

Ich weiß, conosco, je sais, j’ai compris, alle einfachen Dinge sind nicht erklärbar.

Liegt die Lösung vielleicht im manuelinischen Fenster von Mafra, in den unendlichen klirrenden kalten Hallengängen eines Weltreichgebildes, das vor Eitelkeit und Leere sein Haupt zum Meer hinausneigte?

Wir waren doch stehengeblieben bei Jesus und Judas, oder bei der unendlichen Weite des Meeres, oder beim Infanten Henrique und der Windrose in seinen Lösungen für die portugiesische Traurigkeit, oder gibt es keine …?

Liegt die Lösung vielleicht in der Wiege der Nation, in Guimaraes? Oder liegt sie vielleicht in der unendlichen Selbstüberschätzung untergegangener schwerer, mit Gold, Garfunkel und Sklaven beladener Karavellen?

Hatte Jesus nicht recht, als er uns das Gegenteil vorlebte, uns warnte vor Großmannssucht und Vermessenheit, wandernd und predigend über die gleißenden Hügel Palästinas?

Verstehen sie, ich komme nicht klar mit manuelinischen Fernstern und klirrenden Hallengängen zur Ehre Gottes, oder vielleicht Jesu?

Oder sollten wir nach Angola zurück zu den glücklichen Armen, bevor das Schert sie strich? Wo sind die lebenden Hände, verstehen sie, wir reden nicht von Dürer und Beten, sondern von Agape. Wir reden auch nicht von schwermütiger Seelenanrührungsmasse in der Musik, nein, wir reden von den gleißenden Hügeln Palästinas.

Dort, Herr, bleibe bei uns, denn der Tag hat sich geneigt, dort, in dieser gnadenlosen Hitze erkannten zwei, worauf es ankommt … auf Auferstehung …

Wie war das damals noch im verborgenen Dachzimmer?

Wir sprachen doch eben von Auferstehung … Zusammengepfercht wie die Tiere erwarteten sie nichts, seine Jünger, denn sie waren die Toten … und dann war noch einer dabei, den sie Zwilling nannten.

Glaube, glaube nicht, weiß ich? Entschuldigen sie, können sie mir Sinnhorizonte erschließen wie der über die Meere segelnde Infante? Vielleicht gibt uns die Windrose in der Fortaleza von Sagres Aufschluß wie der Geist aus dieser unserer Flasche? Sind es vielleicht nur ein paar sinnvoll zusammengelegte Steine?

Fragen, Fragen …

Ist er es? Ist er es nicht – auferstanden von den Toten?

Ich kann es mir nicht vorstellen …

Können Sie mir erklären, was man unter einer Vorstellung versteht? Ich stelle mir vor, du stellst dir vor, er, sie, es stellt sich vor …

Stell dir vor, Jesus ist auferstanden …

Und du, Thomas, fragst noch?

Du hast keine Vorstellung von Leben, mein Freund, warum fragst du nach den Wunden? Vielleicht solltest du demütig verstehen lernen wie ein Kind … Hast du immer noch nicht verstanden? Ich habe es dir doch bewiesen …, warum fragt du immer noch?

Weil ich nicht verstanden habe. Das Leben besteht nicht aus Vorstellungen, Thomas, es besteht aus der Gnade der Erkenntnis, oder nur aus Gnade …

Sie schaute mich nur ungläubig an, nicht beleidigt, nicht angewidert, gelangweilt. Aber es war ein gründonnerstäglicher Abend, wenn nicht heute, wann dann?

Fatima, brennende Lichter, Kerzen, Menschen auf Knien, Wunder, Weissagungen, die das Verflossene erklären und das Zukünftige erbitten …

Ich bat sie, noch ein Glas mit mir zu trinken, dies sei zwar keine Klärung des Problems, aber ich wollte auch nicht Professor spielen. Sie denken vielleicht, ich hätte meine Gesprächspartnerin angeödet? Nein, ich erklärte ihr nur den Sinn brennender Lichter …

Warum stecken sie eine Kerze an? Um Atmosphäre zu schaffen, oder … vielleicht zu bitten … oder zu danken …? Lourdes, Fatima … Hunderttausende besuchen die Stätten des Lichtes … oh, habe ich mich versprochen?

Licht, entschuldigen sie, hat etwas mit Erleuchtung zu tun, oder?

Ich ließ mir einmal sagen, ein gewisser Pharisäer namens Saulus habe  auf dem Weg nach Damaskus erkannt, was Jesus von ihm will: Saulus, ein Paulus? War Jesus Pharisäer? Kerzen, Erkenntnis, Erleuchtung, alles auf einmal …

Trinken sie noch ein Glas mit mir …

Auf diese judäische Hitze und das Unverständnis des Thomas und den Gang zum Licht. Wessen Kerzen, wessen Licht, wessen Erleuchtung? Oder gibt es ein Heilsgeheimnis?

Ein Geheimnis, das einem den Tag und die Stunde erklärt, wissen sie, die Stunde, in der man weiß, was Geschichte ist und war … In dieser Sunde erscheinen sie alle, die Trugbilder, die Wahrheitsbilder, die Hitze, das Versagen, die Freude …

Nunc et in hora mortis nostrae, Amen.

Der Wirt räumte die leeren Gläser, löschte das Licht, wir unser Gespräch und die Leere der Erfahrung. So schlenderten wir ins Ungewisse.